HINTERGRUNDINFORMATION | "EIN KOSTBARES GUT“: DAS RECHT AUF RELIGIONS- ODER WELTANSCHAUUNGSFREIHEIT
von Prof. Dr. Heiner Bielefeldt
Die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit ist ein „kostbares Gut“. Diese Umschreibung, die erstmals im historischen Kokkinakis-Fall (1993)[1], auftauchte, ist zu einem Standardzitat in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geworden. Damit stellt der Gerichtshof heraus, dass die Religionsfreiheit – abgesehen von ihrer offensichtlichen Bedeutung für die Anhänger der verschiedenen Religionen – für die Gestaltung eines respektvollen Zusammenlebens in einer modernen Demokratie unverzichtbar ist. Sie ist weder Luxus noch Privileg. Die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit ist, in den Worten des EGMR, „eine der Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft.[2]
Ungeachtet dieser eindeutigen Würdigung durch den EGMR ist die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit allerdings erneut zu einem umstrittenen Thema geworden, nicht zuletzt in Europa. In den letzten Jahren sind neue Fragen aufgekommen. Während einige davon Aspekte der bestmöglichen praktischen Umsetzung dieses Menschenrechts betreffen, deuten andere Fragen auf eine gewisse Skepsis hinsichtlich der anhaltenden Relevanz der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit in einer modernen säkularen Gesellschaft hin. Privilegiert die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit bestimmte religiöse Weltanschauungen? Welchen Umfang hat sie, und wo stößt sie an Grenzen? Brauchen wir tatsächlich ein Menschenrecht, das sich speziell mit Fragen der Religion bzw. Weltanschauung befasst? Würde es nicht genügen, jedem Menschen die Freiheit zu garantieren, seine diversen Meinungen, Standpunkte und Überzeugungen (auch religiöser Natur) zu äußern? Wie ist das Verhältnis zu anderen Menschenrechten? Welche Rolle spielt die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit innerhalb einer breiter gefassten Antidiskriminierungsagenda? Dies sind weitreichende Fragen.
Die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit genießt den erhabenen Status eines unveräußerlichen Menschenrechts. So ist sie nicht nur in internationalen und regionalen Menschenrechtsinstrumenten verankert, sondern es fließen auch alle Prinzipien ein, die zusammen den Menschenrechtsansatz definieren: Universalismus, Freiheit und Gleichheit. Das Hauptanliegen der Menschenrechte besteht darin, die Achtung der Würde eines jeden Menschen zu institutionalisieren. Entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis sollte betont werden, dass die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit nicht Religionen oder Glaubenssysteme an sich schützt; auch ist sie keine direkte „Verlängerung“ religiöser Ansichten oder Werte in den Rahmen der Menschenrechte hinein. Stattdessen schützt die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit qua ihrer Natur als Menschenrecht Menschen vor allen Formen von Zwang, Einschüchterung und Diskriminierung im weiten Bereich religiöser oder glaubensbezogener Überzeugungen und Praktiken. Dementsprechend sind die Rechtsträger Menschen – als Individuen und in Gemeinschaft mit anderen. Diese konsequente Ausrichtung auf den Menschen und seine Würde, Freiheit und Gleichheit ist der gemeinsame Nenner, der die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit mit allen anderen Menschenrechten verbindet.
Zugleich kommt der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit innerhalb des breiteren Geflechts der Menschenrechte eine einzigartige Rolle zu. Sie steht für eine entscheidende Dimension unseres Menschseins – nämlich die Tatsache, dass wir Menschen identitätsstiftende, tiefe Überzeugungen annehmen und pflegen können, die alle Aspekte unseres Lebens durchdringen können, im privaten genauso wie im öffentlichen Bereich. Um es mit den Worten der UN-Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz aus dem Jahr 1981 auszudrücken, geht es um die Anerkennung, „dass die Religion oder Überzeugung für jeden, der sich dazu bekennt, einen grundlegenden Bestandteil seiner Weltanschauung darstellt.“ Obwohl sie sich zum Teil mit der Meinungsfreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäußerung überschneidet, hat die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit also einen eigenständigen Anwendungsbereich. Dies macht sie zu einem unverzichtbaren Menschenrecht und rechtfertigt eine kritische Verteidigung gegen zeitgenössische Tendenzen der Marginalisierung und Trivialisierung. Darüber hinaus deckt die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit eine Vielzahl praktischer Ausprägungen der existenziellen Überzeugungen von Menschen ab, wie z. B. die Freiheit, gemeinsam mit anderen zu beten; die eigene religiöse Identität sichtbar zu machen; religiöse Regeln zu befolgen; die eigenen Kinder im Einklang mit den eigenen Überzeugungen zu erziehen; eine Infrastruktur aufzubauen, die von Kindergärten bis zu Friedhöfen reicht u. v. a. m. Ohne eine Würdigung der besonderen Rolle der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit würden die Menschenrechte der conditio humana nicht gerecht – ja, sie wären sogar nicht mehr in vollem Umfang human.
Die Tatsache, dass die verschiedenen Menschenrechte demselben allgemeinen Zweck dienen – nämlich dem Schutz der Würde aller Menschen –, schließt gelegentliche Konflikte nicht aus. Der Umgang mit Spannungen, die zwischen verschiedenen Menschenrechtsanliegen entstehen mögen, ist eigentlich ein normaler Bestandteil der Menschenrechtspraxis. Es wäre daher ein gravierendes Missverständnis, wenn man die Religionsfreiheit als Hindernis für umfassendere Menschenrechtsanliegen (beispielsweise im Bereich der Nichtdiskriminierung) betrachtete. Die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit ist nicht nur für ein adäquates Verständnis der Menschenrechte im Allgemeinen unverzichtbar; sie trägt auch zu einem angemessen komplexen Verständnis der Bemühungen zur Bekämpfung von Diskriminierung bei. Mag sie auch zuweilen ein Element der „Verkomplizierung“ hinzufügen, so liegt das vor allem daran, dass der Mensch tatsächlich ein „kompliziertes“ Wesen ist. In unserer Eigenschaft als Menschen sind vielfältige Bedürfnisse, Wünsche, Verletzbarkeiten, Identitäten und Gestaltungsmöglichkeiten charakteristisch für uns. Die Möglichkeit, existenzielle Überzeugungen zu hegen, die unser Innerstes durchdringen und unsere Wahrnehmungen und Prioritäten prägen, gehört zu dem, was uns zum Menschen macht. Genauso wie die Menschenrechte ohne Religionsfreiheit unvorstellbar wären, wären Antidiskriminierungsbemühungen unvollständig, wenn sie die Bedeutung religiöser Ansichten und Praktiken unberücksichtigt ließen.
Die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit spielt darüber hinaus eine wichtige Rolle in den anhaltenden Debatten über den säkularen Charakter des modernen Staates. Säkularität ist zu einem bestimmenden Merkmal moderner Demokratien geworden und charakterisiert in hohem Maße auch die moderne Gesellschaft. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass der Begriff Säkularität sehr unterschiedliche Bedeutungen in sich vereint. So kann der säkulare Charakter der Verfassung für die dauerhafte Aufgabe stehen, den öffentlichen Raum für religiöse und nichtreligiöse gesellschaftliche Vielfalt offen zu halten. Doch kann Säkularität auch stellvertretend für postreligiöse und antireligiöse Weltanschauungen gebraucht werden, die öffentliche Institutionen und das öffentliche Leben durchdringen. Der Grat zwischen diesen offenen und restriktiven Formen der Säkularität mag schmal sein und niemand weiß, wo genau er verläuft; dennoch existiert er. In diesem Kontext bietet die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit eine solide Grundlage für die Pflege eines offenen und inklusiven Verständnisses säkularer demokratischer Verfassungen. Sie erinnert uns außerdem daran, dass Säkularität nur dann sinnvoll ist, wenn sie im Dienst der Achtung der Freiheit der Menschen im privaten Bereich und in der Öffentlichkeit steht. Dies ist eine wichtige Aufgabe.
In unseren zunehmend pluralistischen, modernen Gesellschaften ist die Verwirklichung der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit zu einer schwierigen Aufgabe geworden. In Anbetracht der unerschöpflichen Vielfalt von Glaubenssystemen, religiösen und moralischen Überzeugungen, individuellen und gemeinschaftlichen Praktiken ist die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit Gegenstand vieler weitreichender Fragen, die eine umfassende öffentliche Debatte rechtfertigen. Doch in jedem Fall suchen die Menschen weiterhin nach einem letzten Sinn im Leben, pflegen ihre existenziellen Überzeugungen, beten gemeinsam mit anderen und erziehen ihre Kinder in Übereinstimmung mit Werten, die sie schätzen. Das Zusammenleben in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft erfordert eine Kultur des Respekts, die ohne Religions- oder Weltanschauungsfreiheit nicht gedeihen könnte. Das Recht auf Religions- oder Weltanschauungsfreiheit ist sicherlich auch weiterhin „eine der Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft“, wie es uns der EGMR in Erinnerung ruft – und in der Tat ein kostbares Gut.