HINTERGRUNDINFORMATION |ETHNORELIGIÖSER NATIONALISMUS: MANIPULATION DES STREBENS NACH GEMEINSAMER IDENTITÄT
Neben dem kommunistischen Totalitarismus und dem Islamismus gehört der religiöse Nationalismus zu den größten Bedrohungen für die Religionsfreiheit und das friedliche Zusammenleben der Religionen in unserer heutigen Welt. In zahlreichen Ländern (wie Indien, Sri Lanka, Pakistan, Myanmar, Malaysia, Bhutan und Nepal, um nur einige Beispiele zu nennen) sind religiöse Minderheiten zunehmend mit gravierender Marginalisierung und aktiver Verfolgung (oft durch ihre eigenen Mitbürger) konfrontiert – und dies inmitten anschwellender populistischer Bewegungen eines religiösen Majoritarismus (siehe Länderberichte).
In einer immer stärker von einer spirituell entleerten, globalen Konsumkultur geprägten Welt dürsten viele Menschen geradezu nach Formen der Identität und Gemeinschaft, die gehaltvoller und tiefgründiger sind. Ethnoreligiöser Nationalismus ist ein Versuch, widerstandsfähige Modelle der Zugehörigkeit in einer Welt des enormen Wandels zu schaffen. Er geht davon aus, dass sich die Identität des Einzelnen zum Teil aus seiner Zugehörigkeit zu einer großen Nation ableitet (definiert als ein einzigartiges Zusammenfließen von Religion, Ethnie, Sprache und Territorium) und durch eben diese Zugehörigkeit eine Aufwertung erfährt. Derartige Bewegungen erleben ihr größtes Wachstum derzeit offenbar in Asien. Wie die Länderberichte zeigen, florieren ethnoreligiöse nationalistische Bewegungen vor allem in den mehrheitlich buddhistischen Ländern Myanmar und Sri Lanka, im malaiisch-muslimischen Malaysia und im bengalisch-muslimischen Bangladesch.
Die Partei des indischen Premierministers Narendra Modi, die Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) – die sich mit einem Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen 2019 erneut die Macht sichern konnte – hat der jahrzehntealten hindu-nationalistischen Bewegung zu neuer Attraktivität verholfen. Der Hindu-Nationalismus ist die weltweit größte religiös-nationalistische Bewegung und gründet auf einer im Wesentlichen ethnisch-religiösen Identität, deren glühendste Verfechter im konservativen „Kuhgürtel“ in Zentral- und Nordindien leben. Wie in vielen Ländern mit starken religiös-nationalistischen Bewegungen ist das institutionelle Bollwerk des Hindu-Nationalismus ein Netzwerk von nicht-staatlichen Akteuren, das sich zunehmender Resonanz und Einflussnahme in der indischen Bevölkerung erfreut. Das schlägt sich auch in den Wahlen nieder: Das Ergebnis von 40 % der Wählerstimmen im Jahr 2019 bescheinigt der BJP mit ihrer Hindutva-Philosophie (Errichtung eines mächtigen Hindu-Staats) eine hohe Massenattraktivität.[1]
Wenn der Trend zu einem virulenten ethnoreligiösen Nationalismus nicht gestoppt oder zumindest gebremst wird, sind katastrophale Folgen unvermeidlich. In vielen Ländern Asiens (aber auch in anderen populistischen Regimen weltweit), die der ethnoreligiöse Nationalismus in der Hand hat, ist bereits eine Kombination aus demokratischem Rückschritt und wachsender religiöser Unterdrückung zu beobachten. Wie in den Länderberichten ersichtlich wird, vollzieht sich beispielsweise in Demokratien wie Indien, Myanmar und Sri Lanka, die besonders stark von ethnoreligiösem Nationalismus geprägt sind, eine Entwicklung hin zu „hybriden“ autokratisch-demokratischen Regimen, die reguläre Wahlen mit starken Einschränkungen grundlegender Verfassungsrechte wie der Religionsfreiheit verbinden. Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang ist Pakistan: Seit Langem in den Fängen einer zur Waffe geratenen religiös-nationalistischen Identität und seit geraumer Zeit im Dunstkreis Chinas, ist das Land ein Lehrbuchfall einer religiös dominierten „Wahlautokratie“.
Was wir möglicherweise gerade erleben, ist das, was der Südasien-Wissenschaftler Farahnaz Ispahani als „Pakistanisierung“ Asiens bezeichnet hat:[2] Auf Exklusivismus gründende Mehrheitsidentitäten wirken mit zunehmend autoritären Staaten zusammen, um religiöse Minderheiten dauerhaft zu Bürgern zweiter Klasse zu machen – wenn sie nicht sogar vollkommen entrechtet oder vernichtet werden. Es bleibt ungewiss, wie viele weitere Länder entscheiden mögen, dass diese Art von Regime ein attraktives und tragfähiges politisches Modell darstellt. Gewiss ist allerdings, dass eine Kombination aus ethnoreligiösem Nationalismus und autoritärer Regierungsführung zutiefst unvereinbar ist mit einer stabilen Religionsfreiheit für alle Bürger – unabhängig von Glaube, Kaste oder Ethnie.
QUELLEN
[1] "India election results 2019: Narendra Modi secures landslide win", BBC News, 23. Mai 2019; https://www.bbc.com/news/world-asia-india-48347081
[2] “Referring to concerns about the “Pakistanization” of the region of South Asia”, Dr. Farahnaz Ispahani, 18. Juli 2019; https://twitter.com/RFInstitute/status/1151639626442035201